Das neue Nintendo-Spiel Pokémon Go ist derzeit die erfolgreichste Smartphone App der Welt und die Medien schüren den Hype mit immer neuen Geschichten an. Durch den massiven Ansturm auf das mobile AR-Spiel, das in Deutschland erst seit dem 6. Juli offiziell verfügbar ist, gehen die Server des Entwicklers Niantics mittlerweile regelmäßig in die Knie.
Unter AR (Augmented Reality = erweiterte Realität) versteht man die computergestützte Erweiterung der Wirklichkeit: Die reale Umgebung verschmilzt auf dem Smartphone mit der virtuellen Welt. Deshalb findet die Jagd auf die kleinen Monster und ihre Kämpfe untereinander auf Plätzen und Straßen, an Badestränden oder auf Friedhöfen mitten in der Öffentlichkeit statt – nicht mehr am heimischen Computer oder auf der Spielkonsole.
Massenhype um Pokémon Go verändert Wahrnehmung
Faszinierend ist der Hype um Pokémon Go auch deshalb, weil er die Art und Weise verändert, wie wir auf die Welt schauen und die digitalen Möglichkeiten nutzen. Der Journalist und Berater Thomas Knüwer schreibt in seinem Blog „Indiskretion Ehrensache“: „In einigen Jahren wird man von der Zeit vor und nach dem 6. Juli 2016 sprechen, geht es um digitale Geschäftsmodelle, Augmented Reality oder Mobile-Anwendungen.“
Dabei ist AR nicht unbedingt etwas Neues. Einst von Boeing-Ingenieuren zur Unterstützung bei Kabelverlegungsarbeiten in Flugzeugen entwickelt, lässt sich diese Technologie heute in den unterschiedlichsten Bereichen in Industrie und Logistik einsetzen: Beispielsweise für die Produktionsplanung, in der Instandhaltung, als digitales Handbuch in Service und Wartung, in der Aus- und Weiterbildung und im Marketing sowie auf Messen. Im Zeitalter von Industrie 4.0 soll Augmented Reality einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der digitalen und vernetzten Fabrik liefern.
Anwendungsfelder für Augmented Reality in Industrie und Logistik
So könnten beispielsweise in Werksbrillen direkt die nächsten Arbeitsschritte eingeblendet und Warnungen bei falschen Handgriffen angezeigt werden. Montage- und Reparaturtätigkeiten werden einfacher, fehlerfreier und nachvollziehbarer, wenn die jeweils notwendigen Maßnahmen im Sichtfeld eingeblendet sind und beispielsweise auch gleich die notwendige Passform eines Ersatzteils in der korrekten Position dargestellt wird.
Auch in der internen Logistik gibt es ein weites Einsatzfeld: Etwa wenn der Gabelstaplerfahrer im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor seinen Augen sieht, was er genau wo abholen und wohin fahren soll. Oder wenn ein virtueller Button auf einem Werkstor platziert ist, könnte ein Fahrer es damit bei der Anfahrt mit seinem Smartphone direkt öffnen. Zufahrt erhält er aber nur, wenn er den Button durch die Handykamera mit einer userauthentifizierten App sieht und laut Arbeitsablauf zur Einfahrt berechtigt ist. Passanten ohne diese AR-App sehen nur ein geschlossenes Tor ohne Öffnungsmöglichkeit.
Um diese Technologie nutzen zu können, benötigt der Anwender einen Bildschirm auf dem die Informationen abgebildet werden können (z.B. Fernseher, Smartphone, Tablet usw.). AR-Apps für Smartphones haben den Vorteil, dass sie die Anschaffung neuer Hardware überflüssig machen. Wer allerdings will, dass seine Mitarbeiter während ihrer Tätigkeit kein zusätzliches Gerät in der Hand halten müssen, kann auch den Einsatz von Datenbrillen („Smart Glasses“) in Erwägung ziehen.
Lufthansa Industry Solutions mit 20 Business Cases für den AR-Einsatz
Im Innovationslabor von Lufthansa Industry Solutions wird die aktuelle AR-Technik fortlaufend auf ihre Industrietauglichkeit hin untersucht – speziell auf ihr Potenzial, Prozessabläufe zu optimieren. Insgesamt hat man etwa 20 Business Cases für den Einsatz von AR-Brillen identifiziert und beispielhaft gerechnet. Diese Wearables blenden Informationen aus dem Internet oder beliebigen IT-Systemen ins Sichtfeld der Nutzer ein. Kommissionierungskräfte bekommen beispielsweise Auftragspositionen samt Lagerort im Sichtfeld angezeigt, gesteuert werden die Brille und die darauf laufende „Aug App“ per Sprachbefehl. Die Folgen: kürzere Durchlaufzeiten beim Kommissionieren, weil die Hände frei sind, deutlich geringere Fehlerraten und weniger Bedarf an Desktop-Rechnern.
Der Logistikkonzern DB Schenker erprobt mit dem Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) als Teil von Logistik 4.0 nicht nur autonome Roboter, Drohnen und 3D-Druck, sondern auch diverse AR-Anwendungen. Ein Kopfapparat, der aussieht wie eine zu groß geratene Taucherbrille, zeigt etwa mit farbigen Symbolen, in welches Regalfach ein Mitarbeiter greifen muss. Auch wie dieser die einzelnen Waren optimal in einem Paket verstaut, visualisiert die Brille. Eine Effizienzsteigerung von bis zu 30 Prozent erwarten die IML-Forscher damit, müssen das Gerät aber erst noch ergonomischer gestalten.
Pick-by-Vision bringt Effizienzsteigerung von 25 Prozent
Bereits Anfang vergangenen Jahres führte auch DHL in einem Distributionszentrum in den Niederlanden ein Pilotprojekt zur AR-unterstützten Kommissionierung durch. Hierbei wurden Lagerfachkräfte für drei Wochen mit Datenbrillen und einer Augmented-Reality-Anwendung ausgestattet. Das Ergebnis dieses Pick-by-Vision-Experiments: Eine Effizienzsteigerung von 25 Prozent. Mittlerweile arbeitet der Logistikkonzern schon in mehreren Lagerhallen mit den digitalen Brillen, die Produkte schneller auffinden und Wege vereinfachen. Auch ein Einsatz dieser Technologie bei Briefträgern, die in unbekannten Zustellgebieten eingesetzt werden, wird von DHL in Erwägung gezogen. Dadurch könnten sie Briefkästen oder Adressen viel einfacher finden.
DHL hat zusammen mit der Beraterfirma Z Punkt schon vor einiger Zeit den Report „Augmented Reality in Logistics“ veröffentlicht. Er nennt verschiedene bereits existierende oder auch für die Zukunft geplante Geräte, um AR besser nutzbar machen zu können. Da stationäre Geräte für die Logistikbranche eher ungeeignet sind, beschränkt sich das nutzbare Spektrum vor allem auf tragbare Geräte wie Tablets und Smartphones, Head-mounted Displays, die wie eine Art Datenhelm funktionieren, und smarte Brillen wie Google Glass – oder weitere Modelle anderer Hersteller, die im Moment noch entwickelt werden.
Zahlreiche Einsatzfelder für Augmented-Reality-Anwendungen
Neben Pick-by-Vision wird auch das Ausliefern als künftiges Einsatzfeld genannt. Neben dem schnelleren Scannen von Paketen soll die neue Technologie dabei helfen, Lieferzeiten zu verkürzen, indem sie die Rolle des Navigationssystems übernimmt. Dabei könnte der Fahrer die Richtungsangaben über eine Datenbrille erhalten – oder ähnlich wie einigen Luxus-PKWs heute schon möglich – über ein auf die Frontscheibe projiziertes Display.
Neben Unternehmen können aber laut der DHL-Studie auch Privatkunden von AR-Systemen profitieren. Wie oft wurde schon gerätselt, welche Paketgröße die richtige ist, wenn etwas verschickt werden soll. Wird dann die falsche Größe besorgt, steht Ärger an, weil die Verpackungen nicht passen. Mit entsprechenden Apps könnten Pakete virtuell auf die Waren projiziert werden, um die Größe der Verpackung besser abschätzen zu können. Solche Apps existieren zwar noch nicht, aber der Paketassistent von DHL könnte als erstes Beispiel für die Möglichkeiten der Augmented Reality für den Versand von Paketen gelten.
Mit dem Erfolg von Pokémon Go tritt diese Technologie nun erstmals ins Massenbewusstsein. Einer Untersuchung des Fraunhofer Instituts und des Digitalverbandes Bitkom zufolge wollen deutsche Unternehmen bis zum Jahr 2020 knapp 850 Millionen Euro in Virtual und Augmented Reality investieren. Analysten des US-Finanzdienstleisters Goldman Sachs sagen bis zum Jahr 2025 bei optimaler Entwicklung einen weltweiten Jahresumsatz von 182 Milliarden Dollar voraus. Das wäre deutlich mehr, als die TV-Branche heute im Jahr umsetzt.